Hödeken (Winzenburg)
Zwischen Freden an der Leine und dem alten Nonnenkloster Lamspringe lag auf einem gewaltigen Bergkegel des Sackwaldes die Winzenburg, einst die stärkste Feste des fürstbischöflichen Stiftes Hildesheim. Von der Burg, die während vieler Fehden zerstört wurde, ist nur das Bruchstück eines Turmes erhalten; doch erzählt man noch allerhand Sagen von Hödeken, dem Winzenburgischen Poltergeist.
Hödeken pflegte man den wunderlichen, meist unsichtbaren Hausgeist zu nennen, weil er an einem weißen Filzhut zu erkennen war, den er wie angenagelt auf dem Kopfe trug. Er zeigte sich gegen jedermann freundlich und gefällig; sobald er aber geneckt wurde, erwies er sich als der rauschsüchtigste und grausamste Kobold, den es je gab. Mit besonderer Vorliebe hing er an der Winzenburg und ihren rechtmäßigen Bewohnern, deren Wohl und Wehe ihm sehr am Herzen lag, und er heulte und lärmte entsetzlich, wenn der Burg oder ihrem Besitzer Gefahr drohte.
Als Graf Hermann I., der Erbauer der Winzenburg, in der Fremde verstarb, hub Hödeken in der Nacht vorher hoch über dem Schlosse ein solches Jammergeschrei an, dass es Verwunderung und Schrecken erregte. Am anderen Tage aber, als man das Unglück erfuhr, wusste man wohl, warum Hödeken so getobt hatte. Und als Graf Hermann II. seinen Vasallen Burghard von Luckenwalde, den Vertrauten Kaiser Lothars, auf der Winzenburg erstach, ließ sich Hödeken wiederum in der Nacht vor dem Morde hören und machte ein seltsames Geschrei. Um diese Mordtat zu rächen, zog Kaiser Lothar 1131 mit einem Heere heran und belagerte die Winzenburg. Da verschwand Hödeken und nicht eher wieder, bis das Schloss mit Sturm bedroht wurde. In Gestalt eines Raben erschien er nun und heulte kläglich; in der folgenden Nacht wurde die Winzenburg erobert und zerstört. Hödeken schrie und weinte unaufhörlich, dass ihm sein Aufenthalt in eine Wüste verwandelt worden war. Als aber hernach das Schloss wieder aufgebaut und in seinem vollen Umfange wiederhergestellt wurde, frohlockte er gewaltig.
Eine Zeitlang verhielt sich Hödeken ruhig. Als jedoch im Jahre 1152 Hermann II., der Letzte der Winzenburger, samt seiner Gemahlin Luitgardis von einem Burgritter ermordet wurde, dawar es wieder Hödeken, der diese grauenhafte Tat am Tage vorher durch Heulen und Schreien ankündigte. In derselben Stunde aber, in der die Tat geschehen war, eilte der Geist auf dem kürzesten Wege nach Hildesheim, trat vor das Bett des schlafenden Bischofs Bernward, weckte ihn und sprach: „Plättner, wake up, de Greveschop to Winzenborg de steit los!“ (Glatzkopf, wach auf, die Grafschaft Winzenburg ist ledig.) Der Bischof ließ sich das nicht zweimal sagen, stand auf, brachte sein Kriegsvolk eilig zusammen und besetzte die Grafschaft, die er so, mit Einwilligung des Kaisers, dem Stifte Hildesheim einverleibte.
Ein Graf, der vom Bischof mit der Winzenburg belehnt war, hatte zwei Söhne, die in Unfrieden lebten. Um einen Streit wegen der Erbschaft abzuwenden, war mit dem Bischof zu Hildesheim festgemacht, dass derjenige mit der Grafschaft belehnt werden sollte, der nach des Vaters Tode sich zuerst darum beim Bischof melden würde. Als nun der Graf starb, stieg der älteste Sohn gleich zu Pferde und ritt los zum Bischof. Der Jüngste aber hatte kein Pferd und wusste nicht, wie er sich helfen konnte. Da trat Hödeken zu ihm und sprach: „Ich will dir beistehen; schreib einen Brief an den Bischof und erbitte darin deine Belehnung; er soll eher dort sein, als dein Bruder auf seinem jagenden Pferde.“ Da schrieb er den Brief, und Hödeken trug ihn auf dem Wege, der über Gebirge und Wälder geradeaus ging, nach Hildesheim und war schon lange da, ehe der älteste herbeigeeilt kam. Also gewann er dem Jüngsten das Land. Dieser Pfad ist schwer zu finden und heißt noch immer Hödekens „Rennstieg“.
Hödeken erschien gar oft an dem Hofe des Bischofs zu Hildesheim und hat ihn ungefragt vor mancherlei Gefahr gewarnt. Die Wächter der Stadt hat er fleißig ich acht genommen, dass sie nicht schliefen. Gewöhnlich ging er den Köchen und Köchinnen zur Hand, schwatzte oft mit ihnen in der Küche. Eine Mulde im Keller war seine Schlafstätte. Als man nun seiner gar gewohnt geworden war und sich niemand weiter vor ihm fürchtete, begann ein Küchenjunge, ihn zu verspotten, mit Lästerworten zu hudeln und, sooft er es nur vermochte, mit Dreck aus der Küche nach ihm zu werfen oder ihn mit Spülwasser zu begießen. Das verdross Hödeken sehr, und er bat den Küchenmeister, den Jungen zu strafen, damit er solche Büberei unterwegs ließe, oder er selbst müsste die Schmach an ihm rächen. Der Küchenmeister lachte ihn aus und sprach: „Bist du ein Geist und fürchtest dich vor dem kleinen Knaben?“ Darauf antwortete Hödeken: „Weil du auf meine Bitte den Buben nicht strafen willst, so will ich dir zeigen, wie ich mich vor ihm fürchte.“ und ging damit im Zorn weg.
Nicht lange darauf saß der Junge nach dem Abendessen allein in der Küche und war vor Müdigkeit eingeschlafen. Da kam der Geist, erwürgte ihn und zerhackte ihn in kleine Stücke; diese warf er in einen großen Kessel und setzte den ans Feuer. Als der Küchenmeister kam und in dem Kessel Menschengleider kochen sah, fing er an, den Geist greulich zu schelten und ihn zu verfluchen. Der aber antwortete: „Lass ab vom Fluchen, damit es dir nicht ebenso geht wie dem Jungen!“ Als nach einigen Tagen der Küchenmeister beim Fleischbraten war, kam Hödeken und zerdrückte über den Bratenstücken, die für den Bischof und dessen Hofleute bestimmt waren, abscheuliche Kröten. Dazu sagte er: „Sieh, Koch, für deine Verfluchungen gebe ich dir vom meiner Jagd die Bratenbrühe.“ Als der Koch sah, was der Geist getan, ergriff er grimmig das gebratene Fleisch und schleuderte es heftig gegen ihn. „Das soll dir nicht ungerochen hingehen,“ sagte Hödeken und verschwand. Eines Nachts rief er den Koch, angeblich, um ihm etwas Schönes zu zeigen. Der Koch ließ sich verleiten und betrat arglos eine von Hödeken gelegte Fallbrücke. Die Brücke wich, der Koch fiel in einen Graben und brach ein Bein. Als nun der Koch vor Schmerzen weinte, sprang Hödeken lachend herbei und sprach: „Nun, Koch, willst du mich wieder in der Küche mit Braten werfen? Jetzt habe ich die mir angetane Schmach gerächt, und ich hoffe, du wirst mich für die Folge ungeschoren lassen!“
Einen besonders boshaften Streich verübte Hödeken im Jahre 1522. Als in der Stiftsfehde die kaiserliche Acht gegen den Bischof Johann IV. ausgesprochen wurde, war Henning Rauschenplat Drost und Pfandinhaber der Winzenburg. Da er sich weigerte, den mit der Vollstreckung des kaiserlichen Strafbefehls beauftragten Herzögen von Braunschweig die Winzenburg zu übergeben, begannen sie, die Burg mit schwerem Geschütz zu berennen. Während der Belagerung flog plötzlich der Pulvervorrat der Belagerten in die Luft und zerstörte einen Teil ihrer Verteidigungswerke, so dass sie zur übergabe genötigt wurden. Hödeken hatte das Feuer in den Pulverturm geworfen, wie nachstehender Reim besagt:
„Hödeken hadde darmede sein Speel;
He makede, dat dat Füer in dat pulver feel.“
Seitdem die Winzenburg zerstört ist, treibt sich Hödeken im Felde umher und macht sich gern mit Pferd und Wagen zu tun, ladet auch wohl Heu auf und geht unsichtbar den Knechten zur Hand. Doch muss man sich hüten, ihn zu beleidigen. – Ein Bauer in der Winzenburger Gegend, der auf seinen Acker gehen wollte, sah aus der Ferne ein kleines, graues Männchen seinen Dünger auseinander streuen. Der Bauer hatte niemand mit diesem Geschäft beauftragt und beschleunigte den Schritt, um zu sehen, wer ihm ungerufen den Dienst täte. Als der Bauer aber zu laufen anfing, stand das Männchen still wie ein Stock, und als der Mann seinen Acker erreichte, sah er dort nichts als den alten, grauen Wegweiser, der auf dem Kreuzwege hart am Felde stand. „Du Lork hest mek wat ebrüet!“ (Du Kröte hast mich geneckt.) brummte der Bauer, der ganz außer Atem war, und gab dem Pfahl einen derben Schlag mit dem Stocke. Aber wie erschrak der Mann, als der Wegweiser kläglich aufschrie und ihm mit lebendiger, kräftiger Hand eine Ohrfeige gab, dass er kopfüber stürzte! Der Bauer raffte sich auf, nahm die Rockschöße unter den Arm und lief, was er konnte, dem Dorfe zu. Nachher ist er immer weit um den Wegweiser herumgegangen.
Noch manch andere Sage wissen die alten Leute der Sachwalddörfer zu erzählen von Hödeken, der zur Zeit der Herbststürme hoch durch die Luft über den schmalen Pfad des Rennstieges jagt.
Quellennachweis
Entnommen aus Hoike "Sagen und Erzählungen aus dem Land zwischen Hildesheimer Wald und Ith" von Wilhelm Barner, erschienen in der Schriftenreihe des Heimatmuseums Alfeld, Nr. 7